WildMag-Archiv

Sie sind hier: Diskmags → WildMagWildMag #3 (Oktober 2000) → Big Willy

Big Willy
LIN 8080

Nun, dies ist die Story über Big Willy. Das ist jetzt etwas seltsam, weil es sowas eigentlich gar nicht geben dürfte. Es ist auch sehr schwierig, alle Facetten dieses Phänomenes zu durchleuchten, geschweige denn, etwas über die näheren Hintergründe in Erfahrung zu bringen.

Aber beginnen wir mit der ersten öffentlichen Aktion von Big Willy. Eines Tages, es war ein sehr sehr heißer Tag, da erschien auf der Homepage der Regierung ein großer gelber Smiley. Darunter stand in roten Buchstaben: Big Willy for President. Das hatte natürlich Folgen.

Einmal verzeichnete die Statistik über eine Million Seitenzugriffe. Ein andermal benötigte die Regierung fast zwei Tage, um den Fehler, besser die Lücke zu beseitigen. Und ein weiteres Mal, das ist das eigentlich Seltsame daran, es gab plötzlich tausende Personen, virtuelle Personen, die sich Big Willy nannten.

Klar, dass zahlreiche Störversuche, Systemeinbrüche, Hackerangriffe alle irgendwie Big Willy in die Schuhe geschoben wurden. Innerhalb von nur drei Monaten wurden allein im Shopping Netz 124.847 Delikte registriert, die mit Big Willy zu tun hatten. Der Schaden ließ sich nicht beziffern.

Von offizieller Seite wollte man Big Willy natürlich nicht kennen. Anfangs zumindest wurde dieses Thema nicht erwähnt, dann heruntergespielt, besser verharmlost. Erst, als mehrere große kommerzielle Anbieter mit Schadensersatz drohten, wurde Big Willy in der Öffentlichkeit ein ernstes Problem.

So ernst, dass in den Medien Grundsatzdiskussionen begannen. Klar, das Ziel der Sache war vorhersehbar, es hieß mit einem Wort, "rettet den Kommerz". Das war irgendwie nach drei Wochen jedem klar. Die Netzgemeinde begann klammheimlich, mit Big Willy zu sympatisieren. Denn erst durch die breite öffentliche Diskussion wurde so richtig bekannt, was Big Willy schon alles angestellt hatte.

Und so beruhigte sich endlich nach dem 4. Monat die Öffentlichkeit etwas. Jeder konnte wieder in Ruhe seinen Geschäften nachgehen, einigermaßen versteht sich. Big Willy auch. Dann kam die Stunde y2. Eigentlich etwas belanglos, zumindest auf den ersten Blick. Im Shopping-Angebot eines großen Versandhauses befand sich ein unscheinbarer Artikel: Big Willys Bag.

Man konnte diesen Posten ganz normal in den Warenkorb legen. Als Preis erschien dann: kostenlose Kostprobe, mit einem der üblichen accept/deny Buttons. Geliefert wurde daraufhin ein Softwarepaket, Big Willys Bag, 3,8 MByte, selbst ausführbarer Programmcode. War irgendwie lustig, rein oberflächlich, wie eines dieser Gagprogies, bei denen es auf dem Userscreen zu wuseln beginnt.

Es hatte auch fast 18 Tage gedauert, bis jemand aus der Marktanalyse Abteilung des Shoppingkonzerns bemerkte, das Big Willys Bag der meist georderte Artikel ist. Leider war dieser Artikel nie auf der Einkaufsliste des Konzerns. Das wurde natürlich sofort seitens der Konzernleitung überprüft. Man beschloss, die Angelegenheit den offiziellen Stellen zu übergeben. Die Umsätze gingen daraufhin drastisch zurück, aber das ist eine andere Story.

Es konnte nicht einmal festgestellt werden, wie viele Kunden Big Willys Bag auf ihren Rechnern hatten.

Aber inoffizielle Infoseiten einiger Sekundäranbieter berichten, diese Bag sei eigentlich ein Virus. Nun waren die Reaktionen sehr gespalten. Big Willys Bag ließ sich nur sehr schwer von einem System wieder entfernen, und wer es hatte, wollte es nicht vermissen. Dagegen bemühte sich fast jeder Nicht-Besitzer, Big Willys Bag irgendwie zu bekommen.

Denn wer dieses Programm hatte und über Online-Banking verfügte, bekam regelmäßig Gutschriften. Es waren Steuer Rückerstattungen, irrtümlich verbuchte Posten, Stornos, zurück gerufene Lastschriften oder Ähnliches. Das alles lief mehrere Tage völlig unbemerkt.

Man kann sich nur schwer vorstellen, was daraufhin alles in Bewegung geriet. Offiziell wurde der Konzern angezeigt, zu Schadensersatz verurteilt, was dann mehrere tausend Arbeitslose produzierte. Inoffiziell entwickelte sich aber etwas viel Bedeutenderes. Die Big Willy Fan Gemeinde entstand. Das war natürlich eine top heißse Sache, denn es gab zahlreiche Big Willys, auf der ganzen Welt verstreut.

Klar gab es immer mal wieder Schlagzeilen, etwa: "Big Willy gestellt" oder: "Die wahre Big Willy Story" oder: "Das geheime Treiben von ..." und dergleichen. Das Thema konnte nicht länger verharmlost werden. Es schien so, als spalte sich der internationale Netzbetrieb in zwei Teile. Und in den letzten Tagen dieses Sommers waren T-Shirts mit einem gelben Smiley der Hit.

Es ging bereits dem Septemberende entgegen, als Big Willy erneut das öffentliche Intresse bewegte. Diesmal aber war es eher eine offene Kampfansage. Ein kleines Scriptprogramm Namens "bwk" machte sich breit und nistete sich in allen Netzen ein. Ansich die Methode der Vierenverbreitung, allerdings mit völlig anderer Wirkung: Die Seiten kommerzieller Anbieter konnten nicht mehr besucht werden.

Man schrieb den 2. Oktober, als die internationale Software Gilde zu ihrem Live Konvent einlud. Thema: Big Willy. Diese dauerte genau 387 Minuten, da wurden alle Onlineteilnehmer weltweit mit einem kleinen Smiley auf ihren Bildschirmen konfrontiert, unten rechts. Und seit diesem Zeitpunkt ist Big Willy Staatsfeind Nummer Eins, weltweit. Der Besitz von Big Willy Software wurde unter Strafe gestellt.

Es brach das Chaos aus. Zahlreiche Anfragen, wie denn nun Big Willy vom System zu entfernen sei, konnten nicht genau beantwortet werden. Die großen Suchmaschienen meldeten Big Willy Zugriffe mit einer Mitteilung an offizielle Stellen weiter. Möchtgernhacker besorgten sich fieberhaft in letzter Minute irgendwelche Big Willy Module, während ahnungslose User von Big Willy keine Kenntnis haben wollten.

Offiziell stellte man sich das wohl auch etwas zu einfach vor. Manche Kleinstaaten waren nicht so ohne Weiteres bereit, ihre Netzwerke einer übergeordneten Organisation zu unterwerfen. Andere Staaten mußten erst Gesetze schaffen, um in ihren nationalen Netzen gewisse Regularien einzuführen. Mehrere Server-Vereinigungen erklärten vorzeitig ihre Unfähigkeit, das Problem beseitigen zu können. Und ungezählte Administratoren verbrachten nächtelang vergeblich in irgendwelchen Rechenzentren. Und neben all dem begann jede Nachrichtensendung mit Big Willy.

Big Willy war ein Faktum geworden. Keiner durfte wissentlich Gebrauch davon machen, aber kaum einer konnte ernsthaft behaupten, Big Willy-frei zu sein. So verging die Zeit, es wurde Dezember, der 24., es war 18:00 Uhr Weltzeit. Die Onlinewelt stand Kopf. Für exakt eine Minute sahen alle Cyber-User einen Smiley im Weihnachtsoutfit auf ihren Bildschirmen. Und von diesem Zeitpunkt an gab es das Big Willy Netz.

LIN 8080